Corona 3: Kommentar – Nach der Pandemie ist vor der Pandemie: Jetzt Straßen neu denken

(c) Stadt Wien/G. Götzenbrucker

Physische Distanz ist – neben Hygienemaßnahmen – offenbar das wirksamste Mittel zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Mit „physical distancing“ haben Behörden auf der ganzen Welt auf die Bedrohung durch das Covid19-Virus reagiert: Ausgangsbeschränkungen, Abstandsregeln, Grenzschließungen, Reise-und Mobilitätsbeschränkungen waren die Folge.

Für Städte wie Wien stellen diese Maßnahmen die Strategien der Stadtentwicklung auf den Prüfstand. Gibt es in der dichten Stadt ausreichend Platz im Freien für alle, trotz Abstandsregel? Ist die Infrastruktur so ausgestaltet, dass ein Lockdown stattfinden kann, ohne dass lebenswichtige Versorgungseinrichtungen nicht mehr zur Verfügung stehen? Ist eine umweltfreundliche Mobilität trotz Abstandsregeln sicher möglich?

Städtische Resilienz-Strategien

Die Wiener Stadtentwicklung hat in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Planungsgrundlagen geschaffen, die sich in Zeiten der Pandemie mit Abstandsregeln und Ausgangsbeschränkungen besonders wertvoll erweisen.

Das Fachkonzept der polyzentralen Stadt beschreibt die 15-Minuten-Stadt, eine Stadt, deren Wirtschaftssystem lokal und kleinräumig organisiert ist. Im Falle von Ausgangsbeschränkungen ist ein engmaschiges Netz an Nahversorgern, aber auch kleinen Spezialgeschäften von großer Bedeutung, da so die alltäglichen Wege kurz gehalten werden können. Das formulierte Ziel einer polyzentralen Stadt mit vielen kleinen Wirtschaftszentren schafft resiliente Strukturen, auch während einer Pandemie.

Das Grün- und Freiraumkonzept definiert Qualitäten, die in der Stadt hinsichtlich der Verteilung von Grün- und Freiräumen gelten. Zusammen mit dem Fachkonzept „Öffentlicher Raum“ wird der Blick für die „Welt“ zwischen den Gebäuden geschärft, deren Ausgestaltung dann, wenn das eigene Grätzel nicht verlassen werden kann, besonders wichtig wird. Genauso wichtig wie die Ausgestaltung des öffentlichen Raums ist eine ausreichende und über das Stadtgebiet gut verteilte Versorgung mit Grün- und Freiräumen. Neue Stadtteile werden nur noch mit einer großflächigen grünen Mitte gebaut, wie beispielweise im Sonnwendviertel oder am Nordbahnhof.

Wem gehört die Straße?

Dennoch zeigt die Ausnahmesituation der vergangenen Monate gnadenlos auf, wo in Europas Städten und auch in Wien immer noch großer Verbesserungsbedarf besteht. Besonders in den Mittelpunkt rücken in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen die Gestaltung und Nutzungsverteilung unserer Straßen. Wenn es nicht mehr möglich ist, sich weiter vom Wohnort zu entfernen, wird die direkte Umgebung zwangsläufig zum erweiterten Wohnzimmer.

Heute lernen Städte schmerzhaft, dass Straßen weit mehr Aufgaben erfüllen müssen, als Abstellfläche für Fahrzeuge oder Fahrspuren zu sein – wenn sie krisensicher sein wollen. Straßen sind ein zentraler Lebensraum für die Menschen in der Stadt, von deren Ausgestaltung unsere Lebensqualität, unsere Gesundheit und unsere Sicherheit abhängen.

Ein aktuelles Paper der NACTO beschreibt, was während einer Pandemie eine kluge Straßengestaltung zu leisten vermag und nennt viele Beispiele aus der ganzen Welt, wie Städte auf die Pandemie reagiert haben. Janette Sadik-Khan, ehemalige New Yorker Verkehrsstadträtin, spricht in ihrem Vorwort von einem historischen Moment, den Städte jetzt für einen Kurswechsel nutzen könnten und sollten. Es geht, so Sadik Khan, um eine Neuverteilung unserer Straßen und Gehsteige für die öffentliche Nutzung, nicht nur während der Krise, sondern auch für die Zukunft.

Durch Wiener Brille gesehen winkt man da gerne mal ab und sieht wieder einmal die ewige Diskussion um neue Rad- und Fußwege heran dräuen. Doch die Diskussion um eine Neuverteilung des öffentlichen Raums geht sehr viel tiefer. Denn Straßen erfüllen weit mehr Funktionen, was durch die Ausnahmesituation der vergangenen Monate besonders sichtbar geworden ist. Wenn geschlossene Räume zu einem Gesundheitsproblem werden, verlagert sich das Leben auf die Straße.

Straßen sind zentraler Lebensraum für Menschen

Straßen sind Raum für Märkte, Straßen sind der Platz zum Liefern und Laden oder auch sichere Aufstellfläche mit Distanzmöglichkeiten für Menschen, die sich vor Geschäften, Ämtern, Unis etc. anstellen müssen. Straßen bieten Platz für Schanigärten oder konsumfreie Sitzgelegenheiten, für Sport und Spiel. Auch für Schulen und Kindergärten kann der Straßenraum ein wichtiger Ort für Bewegung oder Unterricht sein.

Wenn wir diese Multifunktionalität durch unsere Planungen Wirklichkeit werden lassen, können Straßen ein wesentlicher Beitrag für eine nachhaltige Bewältigung der Corona-Krise sein.

Diskussion eröffnet

Welche Rolle können Straßengestaltung und das Design öffentlicher Räume im Zusammenhang mit einer robusten, krisenfesten Stadt spielen?

Wie ist Ihre Einschätzung dazu? Bitte einfach in die Kommentare posten.

 

3 Kommentare
  1. gert tietz sagte:

    grätzlweise – wo sich gelegenheit bietet – an verkehrsberuhigten stellen erweiterte gehsteigflächen anlegen, wo man sich auf vorinstallierten sitzgelegenheiten – wg. regen oder sonne evtl. überdacht oder als kleinen pavillon – mit gleichgesinnten und/oder bekannten auf ein kleines plauscherl treffen kann. dies fördert den gemeinschaftssinn und das zusammengehörigkeitsgefühl.

    Antworten
  2. gert tietz sagte:

    mehr vorrechte für fußgänger auf nebenstraßen/-gassen. generell 30 kmh, außer auf den durchzugsstraßen. nach dem motto „der mensch zählt mehr als der verkehr“! in diesem zusammenhang mehr gekennzeichnete fußgängerübergänge um den vorrang des fußgängers hervorzuheben/zu betonen.

    Antworten
  3. Barbara Doppler sagte:

    Ein paar Blitzideen dazu: Sehr mobiles Umgestalten soll für Sehbehinderte nicht zum Hürdenlauf werden.
    Erdgeschoßzonen einbinden wäre doch was: Trotz Abstandsregeln kann man vielleicht doch Wege finden und spontan wo Nachhilfe beim Homeschooling geben, Leute sich auch bei Schlechtwetter treffen usw. nur für den Fall, dass eine weitere Pandemie uns mitten im Novemberregen trifft und überfüllte Wohnungen noch mehr zur Falle werden und das Thema Einsamkeit wächst.
    Im Straßenraum mit Personen besetzte (mobile) Infopoints einrichten, für Menschen, für die sich die digitale Welt noch nicht erschlossen hat. Solche Infopoints wären für die Psyche vieler wichtig und im Extremfall Anlaufstelle, für alle, die sich gerne was von der Seelre reden wollen, aber zu Hause keinen ruhigen Platz haben um bei Notrufen anzurufen und auch nicht gleich zu Polizei gehen wollen.

    Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Datenschutzbestimmungen