Der lange Weg zum Hauptbahnhof und „seinem“ Stadtteil
Das Stadtentwicklungsgebiet beim Hauptbahnhof Wien wird – abgesehen von kleineren Restarbeiten – im Sommer 2023, nach zwanzig Jahren Planungs- und Baudauer, fertiggestellt werden.
Eine lange Zeit, werden jetzt viele denken. Angesichts der Dimensionen und der Komplexität des Projekts ist die Umsetzung allerdings eine sehr sportliche Leistung. 2003 unterzeichneten die Stadt Wien, die ÖBB und das damalige Verkehrsministerium die Absichtserklärung zum Bau des „Bahnhofs Wien Europa Mitte“ im Bereich des ehemaligen Süd-/Ostbahnhofs, welcher aus den 1950er Jahren stammte.
Standortsuche
Die Suche nach einem Standort für einen zentralen Bahnhof dauerte allerdings deutlich länger als die Umsetzung heute und begann bereits bald nach der Anlage der ersten Bahnhöfe in Wien um 1850. Die frühen Bahnhöfe Wiens wurden durchwegs außerhalb des Linienwalls, der äußeren Befestigungsanlage der Stadt, positioniert und wurden alle als Kopfbahnhöfe ausgeführt. Skepsis gegenüber dem neuen Transportmittel, aber auch militärische Überlegungen und das Platzangebot waren Gründe dafür.
Die Schleifung der Stadtmauern, der Ringstraßenwettbewerb ab 1857, die bevorstehende Weltausstellung 1873 und die bis 1875 vorgenommene Donauregulierung bewogen Architekten und Ingenieure, Projekte für einen „Centralbahnhof“ in Wien zu entwickeln. Allein zwischen 1870 und 1873 wurden 26 Projekte eingereicht, aber keines realisiert.
Mehrere Vorhaben sahen die Landstraße als geeigneten Standort, aber auch der Karlsplatz oder der Franz-Josephs-Kai wurden dafür in Betracht gezogen. Bei dieser Gelegenheit wäre Wien fast in den Genuss der ersten U-Bahn weltweit gekommen, eine unterirdische Pferdeeisenbahn als Teil eines Gesamtverkehrskonzepts für Wien. Potentielle Investoren haben ob dieser verwegenen Vision allerdings kalte Füße bekommen.
Im Dritten Reich wurden Stadt- und Raumplanung als Machtinstrumente für monumentale Selbstdarstellungen und Neugestaltungen vereinnahmt. Ein Element dieser Selbstdarstellung war ein neuer Zentralbahnhof an Stelle des Süd- und Ostbahnhofs. Die Entwürfe sahen nicht nur eine Neubebauung des Projektgebiets vor, wie sie ja auch bei der aktuellen Entwicklung des Areals stattfindet, sondern gingen mit massiven Eingriffen in die historische Bausubstanz und Struktur des 4. und 10. Bezirks einher. Ein vieleckiges Bahnhofsgebäude zwischen Favoritenstraße und Arsenalstraße hätte einen Durchmesser von ca. 400 Metern gehabt, mit dem Vorfeld ca. 600 Meter. Eine Schneise von den Dimensionen einer Landebahn hätte den Bahnhof quer durch die Wieden mit dem Karlsplatz verbunden.
Nicht unerwähnt darf eine Studie bleiben, deren Urheberschaft von mir nicht endgültig geklärt werden konnte. Inhalt war die Überlegung, einen „Zentralbahnhof“ auf der zwischen 1972 und 1988 neu geschaffenen Donauinsel oberhalb der Reichsbrücke zu etablieren, ein aus heutiger Sicht undenkbarer Standort, wenn auch nicht ohne Reiz.
Bahnhof Wien Europa-Mitte 2003
Ab ca. 1989 gab es neue Überlegungen, einen Zentralbahnhof im Bereich des damaligen Süd-/Ostbahnhofs zu etablieren. Das zu entwickelnde Areal ist ca. 85 Hektar groß, das ist etwas kleiner als der 8. Bezirks Wiens. Das 10 Hektar große Neue Landgut wurde terminlich aus der Entwicklung ausgekoppelt und ist derzeit in Umsetzung. Der Bereich Westbahnhof schied vor allem wegen der beengten Platzverhältnisse aus. Am Südbahnhof bot der vorhandene Raum Platz für die notwendige Verschwenkung der Gleisanlagen, um aus zwei Kopfbahnhöfen einen leistungsfähigen Durchgangsbahnhof zu machen. Dieser Ort ließ aber, nach der Absiedlung des Frachtenbahnhofs Süd, zusätzlich noch Raum für die Entwicklung eines großen Wirtschaftsstandortes im direkten Umfeld des neuen Bahnhofs und eines eigenen Stadtteils zum Wohnen mit dazugehörigem Park, Bildungscampus etc.
Der Bahnhof sollte, im Knotenpunkt dreier transeuropäischer Eisenbahnlinien liegend, eine Drehscheibe für den Personenfernverkehr in Europa werden. Der Standort versprach mit dem direkten U-Bahnanschluss, der S-Bahn, sowie den Straßenbahn- und Autobuslinien, großes Potential für die Attraktivierung des lokalen und (über-) regionalen Öffentlichen Verkehrs.
Nach einer Nachdenk-, Vorplanungs- und Verhandlungsphase wurde im Herbst 2003 eine Absichtserklärung vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie, von den Österreichischen Bundesbahnen und von der Stadt Wien unterzeichnet. Diese Absichtserklärung enthielt bereits einen ersten Terminplan und eine Kostenkalkulation.
Der Masterplan
2004 erfolgte im Wiener Gemeinderat der einstimmige Beschluss des Masterplans. Es wurde ein Städtebauliches Expert*innenverfahren eingeleitet. Von den eingereichten Entwürfen wurden die Büros der beiden Erstgereihten angeregt, einen gemeinsamen Plan zu erarbeiten. So zeichnen die Büros Hotz/Hoffmann und Wimmer für den Masterplan verantwortlich. Dieser erste Plan erfuhr im Laufe der Jahre noch 15 Änderungen und Präzisierungen. 2005 wurde das nun „Hauptbahnhof Wien“ genannte Vorhaben erstmals im Stadtentwicklungsplan dargestellt, 2006 wurde das erste diesbezügliche Plandokument vom Gemeinderat beschlossen.
Rahmenverträge zwischen Stadt Wien und ÖBB
Im Jahr darauf wurde der Rahmenvertrag zwischen ÖBB und Stadt Wien über die jeweiligen Leistungen und gegenseitigen Verpflichtungen im gemeinsamen Vorhaben unterzeichnet. Dieser nur neun A4-Seiten lange Vertrag regelt die fachlichen und örtlichen Zuständigkeiten, die anzustrebenden Qualitäten im Ergebnis und die Abstimmung der Terminpläne zwischen den Vertragsparteien. Für nicht einschätzbare spätere Entwicklungen, Bedingungen und Anforderungen wurde die Möglichkeit offengelassen, Präzisierungen festzulegen, was zu zwei weiteren, 2014 abgeschlossenen Zusatzabkommen führte.
Für das alltägliche Arbeiten erwiesen sich diese Verträge in ihrer Prägnanz als ganz wesentliche Grundlagen, wenn es später darum ging, festzustellen, wer welche Arbeiten wann zu leisten und wer welche finanziellen Anteile beizutragen hatte. Hier zeigte sich die Wichtigkeit einer intensiven Planungs- und Verhandlungsphase, bevor mit der Umsetzung begonnen wurde.
Die Jahre 2007-2008 waren von drei großen UVP-Verfahren geprägt: Je ein Verfahren zum Bahninfrastrukturprojekt, zum Städtebau und zu den Auswirkungen auf den Verkehr waren abzuwickeln. Alle Verfahren konnten ohne große Einwendungen seitens Dritter abgeschlossen werden. Eine Strategische Umweltprüfung, Wind- und Lärmstudien, Schattenwurfstudien etc. rundeten die Reihe der Vorerhebungen ab. Auch waren mögliche Auswirkungen auf den UNESCO-Weltkulturerbestatus der Stadt Wien zu bedenken.
Lenkungsausschuss und Projektleitung
Es wurde ein Lenkungsausschuss installiert, in dem das BMVIT, die ÖBB und die Stadt Wien vertreten waren. Diesem Lenkungsausschuss war zweimal jährlich Bericht über den Zustand des Gesamtprojekts zu legen. Wenn nötig, wurden vom Lenkungsausschuss Entscheidungen zu offenen Fragen getroffen.
Im Juli 2009 wurde in der Stadtbaudirektion die „Projektleitung Hauptbahnhof Wien“, bestehend aus fünf Personen, mit dem Ziel eingerichtet, alle Abstimmungen zwischen Stadt Wien und ÖBB vorzunehmen, sowie die Koordination der städtischen Dienststellen, Bezirke, Betriebe, Fonds etc. durchzuführen. Über den Ablauf der Arbeiten und den Stand des Programms waren der damaligen Auftraggeberin, Frau Stadtbaudirektorin Dipl.-Ing.in Brigitte Jilka, MBA halbjährlich ein Programmhandbuch und ein Controllingbericht nach den Regeln des Projektmanagements vorzulegen. Die Anwendung der Werkzeuge des Projektmanagements war – und wird es bleiben – ein wichtiges Instrument, die Vorgänge zu koordinieren und vor allem den Überblick in diesem langen Entwicklungszeitraum nicht zu verlieren.
Mitte 2007 war mit dem Umbau der Station Südtiroler Platz der offizielle Baubeginn des Hauptbahnhofs. Auch mit dem Abbruch des Südbahnhofs Ende 2009 endete die Planungs- und Verhandlungsphase noch nicht. Während im Bereich des Bahnhofs schon gebaut wurde, wurde die Planung des Sonnwendviertel Ost, mittels eines Kooperativen Verfahrens, erst begonnen.
Ausführung 2010-2023
Die gesamte geplante Arbeit für die städtischen Dienststellen und Betriebe wurde in ca. 130 Einzelprojekte und Arbeitspakete aufgeteilt. In einem Startworkshop im Frühjahr 2010 wurden die Hierarchien, Programmstruktur, Verantwortungen für die Arbeitspakete, verbindliche Termin- und Kostenpläne, sowie Qualitäten der Ergebnisse festgelegt bzw. abgestimmt. Ein erstes Handbuch als Leitfaden und Bericht wurde erstellt. 2011 wurde mir das Programmmanagement und Controlling übertragen.
bahnorama
Großes Augenmerk wurde von der Stadt Wien und den ÖBB auf die Information der Bevölkerung gelegt. Allen beteiligten Gruppen war klar, dass eine Situation, wie sie zur selben Zeit beim deutschen Projekt „Stuttgart 21“ eingetreten war, unter allen Umständen zu vermeiden war. Vielseitige und beste Information aller Interessensgruppen, Wahrung der Themenführerschaft und ein Rückstellen von kleinlichen Egoismen waren erfolgversprechend. Also wurde ein barrierefreies Informationszentrum, das „bahnorama“ errichtet, welches sich schnell zu einem Publikumsmagneten entwickelte. Großzügige und attraktive Ausstellungsräume, deren Inhalte mehrfach aktualisiert wurden, und ein 66 Meter hoher Aussichtsturm waren aus nachträglicher Sicht maßgeblich für die durchgehend positive Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber diesem Großprojekt. Der politische und administrative Weitblick beider Partnerinnen, fünf Millionen Euro in Information und Transparenz zu investieren, kann im Nachhinein nicht hoch genug bewertet werden. Konzipiert für 20.000 Besucher*innen pro Jahr, wurden es im Durchschnitt der Gesamtbetriebsdauer 84.000 pro Jahr, ein großartiger Erfolg.
Ziele wurden erreicht
Dass der Masterplan zum Hauptbahnhof Wien 2004 im Wiener Gemeinderat einstimmig beschlossen wurde, ersparte den Projektverantwortlichen später generelle Querschüsse gegen das Projekt von politischer – und indirekt auch von medialer Seite. Querschüsse kamen zwar vor, aber immer nur zu einzelnen Details, wie z.B. die Distanz von der U-Bahn zum Hauptbahnhof oder die Kosten des Informationszentrums „bahnorama“.
Die Frage der Qualität des Stadtteils wurde und wird intern und extern laufend diskutiert. Trotz so mancher Unkenrufe von öffentlicher, politischer und medialer Seite, wurde bis heute noch kein echter Mangel, welcher dem Bahnhof oder dem Stadtentwicklungsgebiet anhaften könnte, aufgezeigt. Die angestrebte Qualität des Areals und der Verkehrsstation wurde erreicht. Selbstverständlich kann mit gutem Willen und mit finanziellen Mitteln noch nachgebessert werden, zum Beispiel bei der kulturellen Ausstattung oder bei der Verringerung versiegelter Flächen. Gerade bei den versiegelten Flächen offenbart sich die Subjektivität der Qualitätsfrage. Einerseits wird heute verstärkt Augenmerk auf geringe Versiegelung gelegt, andererseits braucht der urbane Raum zweifelsfrei auch große, freie Plätze. Überdies war die Diskussion um Versiegelung und Hitzeinseln zur Zeit des Projektbeginns anderen Fragen der Qualität noch deutlich untergeordnet.
Ob ein Stadtteil wirklich gelungen, wirklich „lebenswert“ ist, steht erst nach Jahren des praktischen Belebt-Seins fest. Dass die Nutzer*innen des Hauptbahnhofs und die Bewohner*innen des dazugehörigen neuen Stadtteils durchwegs zufrieden sind, ist wohl das wichtigste Indiz für die Qualität.
Kosten
Eines wurde jedoch nicht erreicht: das freigegebene Budget zu verbrauchen. Eine Tatsache, die heute eigenartigerweise niemanden interessiert. Von den € 515 Mio. an genehmigten Kosten der Stadt Wien wurden € 51 Mio. eingespart, ein bemerkenswertes Ergebnis für ein Projekt dieser Größenordnung, zu dem allen Beteiligten in den Dienststellen und im städtischen Umfeld nur gratuliert werden kann. Ursachen dafür sind die bei so langer Projektdauer hoch anzusetzenden Beträge für Unvorhergesehenes (welches dann nicht eintrat), die ehemals sich günstig entwickelnden Kosten für Materialien und Leistungen durch Dritte und – der wohl wichtigste Grund – das effiziente Arbeiten der Dienststellen einschließlich der Nutzung aller sich ergebender Synergien.
Sicherheit
Große Sorge bereitete allen Beteiligten die Sicherheit auf den vielen und lang andauernden Baustellen. Entsprechend groß waren die Vorkehrungen und entsprechend streng war die Kontrolle der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften, was sich bei den diversen Baustellenbegehungen regelmäßig zeigte. Notfallpläne wurden erstellt, Lotsenpunkte für Rettungseinsätze und Hubschrauberlandeplätze wurden eingerichtet. Dementsprechend gab es keine schweren Unfälle, lediglich zwei Vorfälle mit je einem verletzten Arbeiter sind passiert. Das ist für ein derart großes Projekt, mit vielen Jahren Baudauer, mit tausenden Beteiligten, die wohl wichtigste positive Bilanz!
Es ist den beiden großen, federführenden Partnerinnen im Programm, Stadt Wien und ÖBB gelungen, die beteiligten Kolleginnen und Kollegen von Anfang an auf die jeweiligen Ziele einzustimmen und sie auch entsprechend zu motivieren.
Ein wesentlicher Motivationsfaktor, abgesehen von der einmaligen Möglichkeit an so einem Jahrhundertprojekt beteiligt sein zu können, war der gemeinsame und immer wieder in Erinnerung gerufene Wunsch, ein Großprojekt ohne Termin- oder Budgetüberschreitungen abzuschließen zu wollen.
Die Zusammenarbeit zwischen städtischen Dienststellen, Geschäftsgruppen, Bezirken, Fonds, Unternehmungen und Unternehmen einerseits und externen Stellen, wie ÖBB, Investor*innen, Auftragnehmer*innen, Bevölkerung andererseits funktionierte überwiegend sehr gut. Ständige, persönliche Kommunikation mit alle Beteiligten und Einfühlungsvermögen in die Rolle des Gegenübers waren wesentliche Erfolgsfaktoren im Programm.
So findet ein Jahrhundertprojekt bald seinen Abschluss, große Arbeit wurde von sehr vielen Menschen unaufgeregt und konsequent erledigt. Das Ergebnis ist ein sehr Schönes.
Daten
- Fläche: 85 Hektar
- Budget: € 515 Mio. Stadt Wien, davon € 460 Mio. verbraucht; € 1 Mrd. ÖBB; € 2,5 Mrd. Private Investor*innen
- Internationaler Verkehrsknoten, ca. 1.100 Züge/Tag, 270.000 Passagiere/Tag frequentieren den Bahnhof
- 5.000 Wohnungen, 55 % gefördert
- 15.000 Einwohner*innen
- 18.000 Arbeitsplätze
- 550.000 m² neue Büroflächen
- Bildungscampus: Kindergarten, Volksschule, Neue Mittelschule, Jugendzentrum, 1.200 Kinder, 200 Lehrkräfte
- Park: 70.000 m², Motorikpark, Spielplatz, Hundezone, Trinkbrunnen, Caféhaus
- Nahversorgung: 95 Anbieter im Bahnhof, zusätzliche Geschäfte und Gastronomie verteilt in den Erdgeschoßzonen
- Tages- und Sozialzentrum für Obdachlose
- Neun Hotels, ca. 2.500 Hotelbetten
- 93 % aller Materialien wurden wiederverwertet, der Großteil davon vor Ort.
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Autor:
DI Andreas SCHWAB
2009-2011: Öffentlichkeitsarbeit im städtischen Projekt Hauptbahnhof
2011-2021: Programmleiter des städtischen Projekts Hauptbahnhof