„Es hängt nicht nur von den Bäumen ab, wie wohl wir uns fühlen“ – Interview mit der Architekturjournalistin Franziska Leeb
Seit April 2023 bietet die Architekturjournalistin Franziska Leeb im Auftrag der MA 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung Spaziergänge entlang der Thaliastraße an. Die Tour durch die Straße im Herzen Ottakrings ist gut gebucht und eines der Highlights von Gemma Zukunft, dem Spaziergangsprogramm der Wiener Stadtplanung. Auch 2024 wird Franziska Leeb wieder geführte Spaziergänge anbieten – durch Ottakring, aber auch durch die Josefstadt und den 15. Wiener Gemeindebezirk.
Die jetzige Winterpause nutzen wir für ein gemeinsames Gespräch und einen Blick zurück. Im Interview erzählt Franziska Leeb von der Saison 2023, früheren Spaziergängen und was das Format des Spaziergangs für sie so besonders macht.
Seit April 2023 bietest Du im Rahmen von Gemma Zukunft Spaziergänge entlang der Thaliastraße an. Wie blickst Du auf die vergangene Saison?
Nachdem in den heißen Monaten des vergangenen Jahres die Auswirkungen der Klimakrise sehr deutlich wurden, war die neugestaltete Thaliastraße ein perfektes Anschauungsbeispiel, wie wirksam in der Bestandsstadt mit den richtigen Maßnahmen regiert werden kann.
Mich hat es gefreut, dass sowohl Profis aus Stadtentwicklung, Freiraumplanung und Architektur mitspaziert sind als auch interessierte Menschen aller Altersgruppen aus ganz Wien und sogar aus den Bundesländern. So entstanden oft sehr interessante Diskussionen, bei denen alle voneinander gelernt haben.
Gab es Momente, die Dich besonders überrascht, begeistert oder bewegt haben?
Überrascht hat mich, dass keine Nörgler dabei waren. Kritisch hinterfragt wurde einiges, aber wir hatten immer gute Stimmung. Am ersten Spaziergang nahm eine betagte Dame, die seit Geburt im gleichen Haus einer Parallelstraße wohnt, teil. Ihre Anekdoten über den Alltag und das Stadtleben in der Nachkriegszeit und auch noch später haben das Thema Stadtentwicklung im Lauf der Zeit auf sehr persönliche Weise lebendig und greifbar gemacht.
Was ist in Deinen Augen das Besondere am Spazierengehen?
Meiner Erfahrung nach versteht man die Stadt besser, wenn man sie zu Fuß erkundet. Man spürt sie mehr, als wenn man – womit auch immer – durch die Stadt rollt und ist langsam genug, um auf Details aufmerksam zu werden. Besonders wenn ich ohne Ziel und ohne besonderen Grund durch die Straßen flaniere, auch in Hinterhöfe abschweife und mich auf Gespräche mit den Menschen einlasse, sind die Erkenntnisse besonders groß.
Welche Botschaft sollen Spaziergänger*innen nach einer Tour mit Dir mitnehmen? Auf welche Aspekte lenkst Du ihre Aufmerksamkeit, damit sie Stadtplanung besser verstehen? Was können Spaziergänge besser als andere Formate?
Zum einen geht es mir darum, dass die Menschen lernen, sich aufmerksam mit ihrer gebauten Umgebung auseinanderzusetzen und verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Anders als zum Beispiel bei einem Vortrag erlebt man den Stadtraum oder ein Gebäude mit allen Sinnen, unverfälscht und unmittelbar. Ich weise zum Beispiel darauf hin, dass es einen großen Unterschied auf das Wohlbefinden auf dem Gehsteig macht, ob sich im Erdgeschoss des angrenzenden Hauses ein Geschäftslokal mit einer attraktiven Auslage befindet oder bloß Garageneinfahrten, Lagerboxen und Automatenläden. Es ist erstaunlich, mit welcher Rasanz sich die beiden letztgenannten verbreiten. Offenbar gibt es Bedarf dafür und lassen sich gute Geschäfte damit machen.
Wir vergleichen auch, wie sich Fassaden auf die Stimmung auswirken: Wie strahlt eine helle Fassade mit Kastenfenstern, deren Gläser das Tageslicht reflektieren? Wie bedrückend wirken hingegen tiefliegende Fenster mit breiten dunklen Rahmen und die seit ein paar Jahren um sich greifende Unsitte, noch zusätzlich im Putz schwarze Umrandungen einzusetzen. Es hängt nicht nur von den Bäumen ab, wie wohl wir uns fühlen.
Was sind Deiner Meinung nach die innovativsten oder nachhaltigsten städteplanerischen Vorhaben in Wien und was macht sie besonders?
Es gibt derzeit so viele Vorhaben, dass ich keines hervorheben möchte. Die nachhaltigsten Vorhaben sind meiner Meinung nach jene, die Verbesserungen in der bestehenden Stadt zum Ziel haben. Das reicht von der Verbesserung des Stadtklimas und des Aufenthaltskomforts für die Menschen über die Energiewende und die Schaffung von Lebensräumen für Tiere bis hin zur Steigerung der Biodiversität. Es gilt, viele Themen unter einen Hut zu bringen. Zugleich gilt es, das charakteristische Stadtbild zu schützen und von einer Kultur des Abreißens und Neubauens zu einer Sanierungskultur zu kommen. Das ist ganz schön viel auf einmal. Das Besondere daran ist, dass mehr Konflikte denn je vorprogrammiert sind und es unvermeidbar ist, dass Magistratsabteilungen und Fachleute interdisziplinär gut zusammenarbeiten und die Bevölkerung ehrlich eingebunden wird. Ich denke, das ist das wichtigste Kapital einer Stadt – Menschen, die miteinander kommunizieren.
Als Journalistin und Exkursionsleitung recherchierst Du sehr viel, Du verbringst oft einen Großteil Deiner Vorbereitung in Archiven. Welchen Fakt hast Du im Zuge Deiner Recherche gelernt, der Dich überrascht oder beeindruckt hat?
Überrascht hat mich, dass es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und davor Proteste gegen Baumfällungen gab und der Zustand der Wiener Stadtbäume ein heißes Thema war. Manche Probleme waren damals nicht anders als heute: Welche Baumarten können in der Stadt gut überleben? Und wie stellen wir sicher, dass sie nicht gleich eingehen, weil sie zu wenig gegossen werden?
Die Thaliastraße ist nicht Dein erster Spaziergang als Architekturjournalistin – Du bist quasi Wiederholungstäterin. Wie viele Spaziergänge hast Du im Laufe Deines Arbeitslebens absolviert und wohin haben Sie Dich bereits geführt?
Mehrere Jahre lang habe ich für den Verein Facette Rundgänge mit Jugendgruppen in der Brigittenau gemacht, bei denen es um gegenseitiges Verständnis, Respekt und Toleranz sowie um Wissensvermittlung zur Stadtgeschichte ging. Mit dem Architekten Erich Bernard habe ich Stadtexpeditionen durch den 5., 6. 7. und 8. Bezirk zu Themen wie „Auffahrt und Abstieg“ (wo es um Lifte und Stiegenhäuser ging), zur „Sprache der Stadt“ und mehr geleitet. Irgendwann hat uns der berufliche Alltag zu wenig Zeit dafür gelassen, aber wir hoffen beide, dass wir irgendwann wieder die Muße haben, neue Themen zu erforschen. Wie viele Spaziergänge es insgesamt waren, weiß ich nicht. Es dürfen jedenfalls gern noch viele mehr werden.
An welchen Spaziergang erinnerst Du Dich gerne zurück?
Als eine der Brigittenau-Touren nach zwei Stunden zu Ende war und ich mich von der Lehrlingsgruppe verabschiedete, meinte einer der Burschen, „schade, dass es schon aus ist. Ich wusste nicht, dass man auf der Straße so viel lernen kann, so etwas erzählt einem sonst auch niemand.“ Das hat mich sehr berührt und es hat mich aber auch nachdenklich gemacht, weil diese Jugendlichen zum ersten Mal – dank der Initiative Ihres Ausbildners – an einer Stadtführung teilgenommen hatten und keine Ahnung hatten, dass es ständig kostenlose Angebote von verschiedenen Kulturinitiativen oder der Stadt selbst gibt. Da wurde mir klar, wie wichtig es ist, auch jene Bevölkerungsschichten zu erreichen, die nicht in den Verteilern der Kulturveranstalter sind.
Und was war Deine skurrilste Spaziergangserfahrung?
„Skurril“ ist vielleicht nicht ganz treffend: Ich habe mehrere Spaziergänge mit Mittelschulklassen gemacht, überwiegend Kinder mit Migrationshintergrund. Ein paar Mal haben im Vorfeld die jeweiligen Lehrerinnen darauf hingewiesen, dass es sich um eine „besonders schwierige Klasse“ handle und man denen eigentlich nichts beibringen kann, Geschichte schon gar nicht. Es hat sich herausgestellt, dass gerade diese „schwierigen“ Klassen die neugierigsten waren. Der anschauliche „Unterricht“ im Spazierengehen hat sie offensichtlich mehr gefesselt als die trockene Theorie in der Schule. Traurig fand ich, dass viele Kinder dabei waren, die noch nie in der Innenstadt waren.
Stadtentwicklung denkt in die Zukunft. Was ist deiner Meinung nach nötig, damit Wien auch für künftige Generationen lebenswert bleibt?
Die große Sache über allem ist die Anpassung an den Klimawandel und zugleich ein radikaler Wandel in der Baupraxis, damit wir einen Beitrag zur Abwendung der totalen Katastrophe leisten.
Zugleich ist es aber wichtig, dass Wien eine Stadt bleibt, wo Menschen unabhängig von Herkunft und Einkommen Zugang zu leistbarem Wohnen, Bildung, Kultur und kostenlosen Angeboten im öffentlichen Raum haben. Beides ist gleichermaßen wichtig und es darf nicht passieren, dass das eine gegen das andere ausgespielt wird.
Zur Person: Franziska Leeb arbeitet freiberuflich als Journalistin, Autorin und Architekturvermittlerin. Im erkenntnisreichen Spazierengehen wurde die gebürtige Niederösterreicherin zur echten Wienerin, die sich bemüht, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Stadt und die Liebe zu ihr in einer guten Balance bleiben.