„Ohne Gender-Brille ist die Planung auf einem Auge blind“
Eva Kail, Pionierin des Gender Plannings über den Stellenwert alltagstauglicher Planung, freundliche Ignoranz und die Notwendigkeit, manchmal unbequem zu sein.
1986 in den Dienst der Stadt Wien eingetreten, konnte DIin Eva Kail in den fast vier Jahrzehnten ihrer Tätigkeit Wien zu einer Vorzeige-Stadt hinsichtlich frauengerechtem und zielgruppenorientiertem Planen und Bauen machen. Besonders die systematische und kontinuierliche Berücksichtigung dieses Aspekts auf verschiedenen Planungsebenen war und ist international einzigartig.
1992 übernahm die Raumplanerin die Leitung der damals neu geschaffenen Magistratsabteilung 57 (Frauenförderung und Koordinierung von Frauenangelegenheiten) und setzte dort auch einen Planungsschwerpunkt. 1998 wurde in der Magistratsdirektion-Stadtbaudirektion die Leitstelle Alltags- und Frauengerechtes Planen und Bauen eingerichtet, um geschlechtssensible Planung weiter zu entwickeln und breit zu etablieren. Insgesamt elf Jahre leitete Eva Kail die Leitstelle und war zuletzt im Kompetenzzentrum für Stadtplanung, Smart City, Partizipation und Gender Planning in der Baudirektion vor allem in der Stadtentwicklung und auch im internationalen Kontext tätig. Mit 1. März trat sie in den wohlverdienten Ruhestand. Eine Gelegenheit, mit ihr über Vergangenes und Zukünftiges, Erreichtes (und vielleicht auch Nicht-Erreichtes) zu sprechen sowie die Bedeutung von gendersensibler Planung zu reflektieren.
Das Interview führte Gabriele Berauschek, Leiterin Referat Öffentlichkeitsarbeit und Fachbibliothek der Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung.
Berauschek: Die thematische Vielfalt deiner Arbeit kam und kommt ja in zahlreichen Modell- und Leitprojekten zum Ausdruck, die Bandbreite reicht von frauengerechtem Wohnbau bis zur geschlechtssensiblen Parkgestaltung, von der Verankerung von Fußgänger*innen-Interessen in der Verkehrsplanung bis zur Vermeidung von Angsträumen. 1991 wurde mit der Ausstellung „Wem gehört der öffentliche Raum – Frauenalltag in der Stadt“ erstmals das Thema der frauengerechten Planung in Wien aufgegriffen. Wenn du heute auf diese Zeiten in der Stadt Wien zurückblickst – was ist dein Resümee? Auf welche Erfolge und Projekte bist du besonders stolz?
Kail: Eine, besser gesagt DIE Initialzündung innerhalb der Stadt war sicherlich die Ausstellung „Wem gehört der öffentliche Raum“. Diese war der Ausgangspunkt für eine kontinuierliche Befassung mit dem Thema einer geschlechtsspezifischen Stadtplanung und eines veränderten Blickwinkels auf gesellschaftliche und soziale Realitäten. Erstmals wurde dabei der Modal Split geschlechtsspezifisch ausgewiesen und wurden die Themen Angsträume und Wohlfühlräume aufs Tapet gebracht. Das Thema Zu Fuß gehen wurde in der Stadt Wien von der „Frauenseite“ erstmals artikuliert und hochgezogen. Wir haben damit für Themen, die quasi schon “in der Luft gelegen sind“, ein Problembewusstsein geschaffen, seither hat es innerhalb der Stadt Wien immer mehr an Bedeutung gewonnen.
Besonders stolz bin ich, dass wir mit Methoden, wie beispielsweise dem „Fairness-Check“, die im „Planungshandbuch“ dargestellt sind, wichtige Werkzeuge und Arbeitshilfen entwickeln konnten, um Qualitäten im Städtebau und in der Gestaltung zu sichern. Dabei geht es um zentrale Fragen wie die Gewichtung bei Zielkonflikten, um Wegeketten, Gehgeschwindigkeiten, konsumfreie Räume, die Versorgung mit sozialer Infrastruktur, Sicherheit im öffentlichen Raum und vieles mehr – jedenfalls aber darum, Gemeinwohlinteressen, deren Verfolgung ja eine zentrale planerische Aufgabenstellung darstellt, differenziert und qualitativ hochwertig in der Stadtplanung zu berücksichtigen. Und um das Bewusstsein zu schärfen, dass Stadtstrukturen alltagsprägend sind. Im Gender-Musterbezirk Mariahilf aber auch im Projekt „Stadt fair teilen“ – bei der Umgestaltung des Reumann Platzes im Zuge der U1 Verlängerung und dem städtebaulichen Leitbild Attemsgasse – hat dieser spezielle Blickwinkel seinen Niederschlag gefunden.
Im Wohnbau möchte ich die Frauen-Werk-Stadt I, die Mitte der 90er Jahre errichtet wurde herausgreifen. Zum ersten Mal wurden weibliche Architektinnen zu einem städtebaulichen Wettbewerb eingeladen, aber vor allem die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Frauenförderung in den Mittelpunkt der Planung gestellt. Sie ist europaweit eines der ersten, größten Projekte, das nach Kriterien eines alltags- und frauengerechten Wohn- bzw. Städtebaus errichtet wurde und ist somit auch eine Benchmark für den sozialen Wohnbau (Der Begriff Gender Planning existierte damals noch nicht). Eines der jüngeren Beispiele ist das Wohnquartier Attemsgasse als Teil des Modellprojekts „DIE Stadt“, das zum Ziel hat, gleichwertige Lebensbedingungen für Frauen und Männer zu schaffen. Der Planungsprozess wurde dabei von Gender-Expertinnen begleitet.
Welche Erlebnisse prägten deinen Einstieg in das Thema, welche Hürden galt es damals zu überwinden? Und welche gibt es vielleicht heute noch? Ist „Gender Planning“ mittlerweile Standard im Planungsgeschehen, oder gilt es immer noch an der einen oder anderen Stelle, dicke Bretter zu bohren?
Das Verständnis ganz zu Beginn war – sagen wir einmal so – enden wollend. Ich erinnere mich noch gut an so manche unqualifizierte Kommentare älterer, aber auch jüngerer männlicher Kollegen Ende der 1980er Jahren. Heute kann man darüber bereits lachen, damals war ich eher fassungslos über schriftlich! getätigte Aussagen wie: Wenn diese Ausstellung kommt, fordere ich die Ausstellung „Der Hund oder der Kanarienvogel in der Großstadt“. Hier hat sich sicher vieles getan, manchmal stößt man noch auf freundliche Ignoranz oder auch reines „genderwashing“, aber grundsätzlich ist das Thema schon angekommen. Was nicht bedeutet, nicht ständig dranbleiben und nach wie vor manchmal unbequem und lästig sein zu müssen, um einen „backlash“ zu verhindern.
Gab oder gibt es Vorbilder für deine Arbeit? Was war ausschlaggebend, dass die gendersensible Stadtplanung für dich zentraler Aufgabenbereich in der Stadt wurde?
Ich komme aus der 2. Generation der Frauenbewegung, das Thema hat mich schon frühbegleitet. „Das Private ist auch politisch“ war damals einer der Slogans. Zu Beginn meines Raumplanungsstudiums habe ich jedoch Planung und Feminismus noch völlig getrennt voneinander gesehen. Erst durch die Auseinandersetzung mit den Theorien feministischer Planerinnen aus Deutschland, ganz voran die Pionierin Kerstin Dörhöfer, habe ich einen anderen Blick bekommen und begonnen, mich mit den Zusammenhängen von Planungsentscheidungen und deren Auswirkungen auf die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Menschen zu befassen. Der Gender-Blick ermöglicht eine viel breitere und vertiefte Auseinandersetzung mit Stadtstrukturen und deren Wirkungen.
Was würdest du Kritiker*innen antworten, die meinen, dies alles sei übertrieben und nicht notwendig? Wie würdest du das Konzept von „Gender Planning“ jemandem erklären, der mit „Gender“ vermeintlich nichts am Hut hat?
Kritiker*innen gab und gebe ich immer gerne mit, dass „gender“ eigentlich ganz simpel bedeutet, die Alltagswelten der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Für die Stadtplanung und Stadtentwicklung heißt das, ständig zu hinterfragen: Wie sehen die täglichen Abläufe und Wege aus? Was brauchen die Menschen – Männer wie Frauen, Alte wie Junge – um ihr Leben im Stadtraum gut und sicher gestalten zu können? Welche Barrieren gilt es dafür zu beseitigen?
Gender Planning bedeutet, robuste und alltagstaugliche Lösungen zu finden und soziale Bedürfnisse in technische Belange zu übersetzen. Dazu reicht es manchmal auch aus, ganz einfache Fragen zu stellen. Je konkreter etwas ist, umso fassbarer ist es auch. Ein simples Beispiel: Bei der Verlängerung der U1, die auch ein Gender Leitprojekt der Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung war, waren als Vorgabe der Wiener Linien bei den Stationen nur an einem Ausgang zwei Lifte vorgesehen. Der Vorschlag des Planungsbüros war, das bei jenem Ausgang anzuordnen, wo mehr Höhenmeter zu überwinden sind. Das war schlicht und eben nicht gendersensibel gedacht und wurde von der Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung korrigiert. Lifte werden am dringendsten von Menschen mit Kinderwägen und Gehhilfen oder im Rollstuhl gebraucht, da sind Stiegen keine Alternative. Daher sollten zwei Lifte, für den Fall, dass einer ausfällt, eben bei dem Ausgang angeordnet werden, den die Mehrzahl solcher Fahrgäste benutzen werden, das ist vermutlich dort, wo sich die meisten Einrichtungen wie Apotheken, Ärzte, Kinderbetreuung etc. in der Umgebung befinden.
Das war mir auch immer wichtig: mit guter und verständlicher Alltags- und Bildsprache zu arbeiten. Ohne Gender-Brille ist die Planung auf einem Auge blind. Selbstbeweihräucherndes Pfauenradschlagen oder abgehobene Fachsprache ist – wie eigentlich überall – nicht wirklich hilfreich, wenn es darum geht, die Lebenssituation von Menschen zu verbessern.
„Wien ist Vorbild für den sensiblen Umgang mit den unterschiedlichen Ansprüchen von Frauen und Männern in der Planung.“ – so bestätige u.a. Stephan Reiß-Schmidt, ehemaliger Stadtdirektor und Leiter der Hauptabteilung Stadtentwicklungsplanung in München den Wiener Weg. Nicht nur im deutschen Sprachraum, international bis in die USA wurde Wien zu einem Vorzeigemodell. Was macht Wien so besonders oder anders als andere Städte?
Die langjährige Befassung mit dem Thema auf städtischer Ebene, die methodische Tiefe und inhaltliche Breite aber auch die konsequente Berücksichtigung in allen Phasen und Ebenen der Planung und im Städtebau – von den ersten Planungsschritten bis hin zur Umsetzung. Die Stadt war hier im fachlichen Diskurs oft führend, wie mir von wissenschaftlicher Seite immer wieder bestätigt wurde.
Wie sehr prägt deine Arbeit deinen auch privaten Alltag? Kannst du noch „unbelastet“ durch Städte flanieren, ohne den Blick auf „genderunsensible“ Gestaltungen zu richten? Oder denkt man sich da immer „der Gehsteig ist für Kinderwägen und Rollstühle aber viel zu hoch“ oder „da hätten sie auch besser noch für mehr Beleuchtung gesorgt“?
Es wird sukzessive besser (lacht). Das kann aber auch befriedigend sein. Wenn ich durch die Kärntner Straße gehe und die Rückenlehnen auf den umlaufenden Sitzauflagen bei den erhöhten Baumscheiben und den langen Bänken sehe, denke ich immer „Das war das Gender Planning“, das habe ich, damals Gender Expertin, als Auflage ins Juryprotokoll reinreklamiert. Menschen sitzen eben gerne bequem. Die Abschnitte mit den Rückenlehnen sind auch immer als erste voll. Die Abschaffung der Rückenlehne, wie von vielen Landschaftsarchitekt*innen aus ästhetischen Gründen gerne praktiziert, ist einfach nicht Nutzer*innenfreundlich.
Da mein Mann auch Stadtplaner ist, hat Stadtentwicklung auch im Privaten immer eine gewisse Rolle gespielt. Die Kinder haben unsere Planungsgespräche beim Essen gehasst oder unseren Austausch auf Reisen öd gefunden. Das hat sich allerdings geändert, seit sie erwachsen sind. Ich verdanke es übrigens einem Interview im Guardian, auf das meine ältere Tochter von ihren Studienkolleg*innen und Freund*innen mehrmals angesprochen wurde, dass sich meine ältere Tochter für das interessierte, was ich so mache. Plötzlich war das „cool“. Und Feminismus ist auch für beide als junge Frauen ein Thema. Als Kinder war es ihnen einfach nur peinlich, wenn ich Autofahrer, die Gehwege am 1. Schultag, zugeparkt haben, wo die Kinder deshalb auf die Fahrbahn ausweichen mussten, und den Polizisten, der das toleriert hat, zur Rede stellte.
Wo liegen deiner Meinung nach die Herausforderungen der Zukunft? Und trotz der Vorbildrolle – gibt es etwas, das sich Wien noch von anderen abschauen könnte?
Ganz dringend werden wir uns mit den Auswirkungen des Klimawandels auseinanderzusetzen haben und insgesamt den Umbau der Stadt voranzutreiben. Ich empfehle hier nachdrücklich einen Blick in den globalen Süden zu werfen. Hier gibt es aktuell sehr spannende Entwicklungen und Modelle – ganz im Sinne der „arte povera“. Die Menschen in diesen Ländern haben gelernt, Herausforderungen mit weniger Mitteln anzugehen, dafür umso kreativer zu handeln, um mit einfachen Mitteln kluge Lösungen umzusetzen.
Darüber hinaus erfordern der demografische Wandel und die älter werdende Bevölkerung nicht nur im Gesundheits- und Sozialbereich, sondern auch auf Planungsebene neue Lösungen. Wie gehen wir mit dem Alter um, welchen Beitrag kann die Stadtentwicklung dazu leisten? Diese Fragen werden uns künftig noch stark beschäftigen – und wir tragen damit auch was zu unserer persönlichen Altersvorsorge bei.
Ganz zum Schluss: Was möchtest du deiner Nachfolgerin, aber auch grundsätzlich jungen Stadtplaner*innen mitgeben?
Mit Julia Girardi-Hoog habe ich eine Nachfolgerin, die beruflich viel soziales Wissen und sozialräumliche Erfahrung mitbringt. Zuerst im Koordinationsteam der Gebietsbetreuungen, dann beim EU Projekt „Smarter Together“ in Simmering, zum Schluss bei Wiener Wohnen mit dem Sozialmanagement betraut, ist sie mit den unterschiedlichen Alltagswelten der Menschen vertraut und vom „Mittelschichtsbias“ gefeit. Feministin ist sie auch. Bei ihr ist die Weiterentwicklung des Themenbereichs in sehr guten Händen.
Dass ich selber manchmal ein bisschen als Role-Model gesehen werde, ist mir erst in letzter Zeit im Gespräch mit jungen Planerinnen bewusst geworden. Das freut und ehrt mich – ich möchte aber betonen, dass ich keine Einzelkämpferin war. Ich hatte viele engagierte Begleiterinnen und Mitstreiterinnen, ohne die Wien nicht dort stünde, wo es heute ist und ohne die die vielen Projekte nicht umsetzbar gewesen wären. Und ich bin auch der Stadt Wien dankbar, dass ich über so viele Jahre – in unterschiedlichen Positionen – am Thema dranbleiben und es vorantreiben durfte. Es war die wunderbare Zusammenarbeit auf Augenhöhe bei den Leitprojekten und Pilotprojekte in vielen Abteilungen und eine große Leidenschaft vieler für die Sache, die alles Erreichte erst ermöglicht hat. Besonders wichtig war natürlich auch dabei der Einsatz von Elisabeth Irschik und Claudia Prinz-Brandenburg in der Leitstelle, das war eine wunderbare Teamarbeit. Das Thema ist jetzt viel breiter aufgestellt. Das hat sich auch dadurch gezeigt, dass sich in jeder Planungsabteilung Kolleg*innen gefunden haben, ein Wissensweitergabe Seminar zu organisieren und das Interesse war dafür erfreulich groß. Da gibt es wirklich ein Netzwerk.
Das ist es auch, was ich der jungen Generation mitgeben möchte: Dranbleiben, pragmatisch, aber hartnäckig sein, die richtigen Fragen stellen und die Beantwortung einfordern – immer mit dem Ziel: Eine Stadt, die allen Menschen – ob jung, alt, Frau, Mann – gute Chancen bietet und deren Planung die unterschiedlichen Alltagsbedürfnisse aller Menschen im Sinne von „Stadt fair teilen“ systematisch berücksichtigt.
Weitere Infos unter:
wien.gv.at – Handbuch „Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung“