„Die Zukunft ist auf Schiene und auf Rädern. Das Rad rollt in die richtige Richtung.“

Auf der Universitätsstraße wird Straßenraum neu verteilt. Denn die Zukunft ist auf Schiene und auf Rädern. © Stadt Wien/Christian Fürthner
Zweiteilige Interview-Serie „Wien und das Radl“ – Teil 2
Wien ist auf Platz 9 der fahrradfreundlichsten Städte der Welt – schon 2019 schaffte die Stadt diesen Sprung in die Top Ten. Somit ist Wien in bester Gesellschaft mit anderen Städten wie Kopenhagen, Amsterdam oder Antwerpen. Dabei hat Wien einen weiten Weg hinter sich: innerhalb von knapp 30 Jahren hat sich die österreichische Hauptstadt von einem Radanteil von 3 % im Jahr 1993 auf nunmehr 11 % im Jahr 2024 entwickelt. Im zweiten Teil des Interviews „Wien und das Radl“ geht es daher um Wien, um andere Städte und den oftmals gern gezogenen und dabei doch so schwierigen Vergleich. Aber auch der Modal Split und die Zukunft der Wiener Radverkehrsplanung sind Thema.
Der Modal Split beschreibt, wie die Wiener Bevölkerung ihre Wege zurücklegt. Im Jahr 2023 war der Anteil des Radverkehrs zum ersten Mal zweistellig – und zwar mit 10 %. Seit 2024 liegt er sogar bei 11 %. Das habt ihr bestimmt gefeiert. Wie geht es weiter?
Thomas: Der Modal Split ist eine sehr träge Masse. Gewohnheiten lassen sich bekanntermaßen schwer ablegen. Es ist für viele Wiener*innen schwer (vorstellbar) – nachdem man beispielsweise 20 Jahre lang Auto gefahren ist – direkt auf das Rad umzusteigen. Es ist eher so, dass es bei diesem Umstieg Zwischenstationen gibt – vom Auto in den Öffentlichen Verkehr, von den Öffis aufs Rad oder beide Mobilitätsformen abwechselnd. In Wien ist der Radanteil laut Modal Split zwischen 1993 und 2024 von 3 % auf beachtliche 11 % gestiegen, ein großer Erfolg und eine enorme Steigerung in Anbetracht der schwierigen Rahmenbedingungen. Eine Wiener Radkultur musste sich erst entwickeln. Es gab zu meinen Anfängen in der MA 18 nur wenige Enthusiasten in Wien, die das Fahrrad in ihrem Alltag regelmäßig nutzten. Im Gegenteil, die Radfahrer*innen in den 80er- und beginnenden 90er-Jahren waren für viele „Außenseiter“ und „Freaks“ und wurden teilweise als lebensmüde bezeichnet. Damals gab es oft keine andere Option als auf stark befahrenen Straßen ohne getrennte Radwege mit dem Autoverkehr mitzuradeln. In der Zwischenzeit hat sich in Wien – auch durch den massiven Ausbau des Radwegenetzes – eine gelebte und sichtbare Radkultur entwickelt. Gleichzeitig sind wir aber in Sachen „Radkultur“ doch noch deutlich entfernt von Kopenhagen und anderen Fahrrad-Städten.
Inwieweit?
Thomas: Innerhalb des Gürtels haben wir jetzt schon eine ausgeprägte Radkultur, viele sehr gut ausgebaute Routen und viele alltäglich im Straßenraum sichtbare Radfahrer*innen. Man muss bedenken, dass der 11 % Rad-Anteil am Modal Split einen Gesamtdurchschnitt von Wien darstellt. In den Innenbezirken liegen wir vermutlich schon bei 15 % oder darüber, in den Außenbezirken liegen wir teilweise noch deutlich darunter. Deshalb wurden in der letzten Legislaturperiode speziell für diese Außenbezirke wesentliche Maßnahmen gesetzt. Unser Ziel ist, dass eine Distanz von 5km für die breite Bevölkerung mit dem Rad sicher und gut machbar wird. Gemeinsam mit den Bezirken wurden Strategien für einen Ausbau des Radwegnetzes erarbeitet und viele richtungsweisende Projekte wurden auch bereits umgesetzt. Die Gegend um den Floridsdorfer Spitz bietet beispielsweise ideale Voraussetzungen für eine

Komfortabel unterwegs auf dem Zwei-Richtungs-Radweg am Spitz in Floridsdorf. © Stadt Wien/Christian Fürthner
fahrradgerechte Umgestaltung. Im Zentrum Floridsdorf und rund um das Donauzentrum in der Donaustadt wurde das Radwegenetz in den letzten Jahren deutlich ausgebaut und aufgewertet. Das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel bietet sich in diesen Bereichen besonders an, weil z.B. keine großen Steigungen zu überwinden sind. Außerdem können wir mit einer gut ausgebauten Radinfrastruktur ein Angebot – im Sinne einer guten Alternative – bieten, da der öffentliche Verkehr an den Stadträndern (noch) nicht überall flächendeckend ausgebaut ist und ausreichend dichte Intervalle hat. Mit dem Fahrrad sind auch die zahlreichen Erholungsgebiete wie Donauinsel, Lobau etc. gut erreichbar. Insgesamt sehe ich das Wiener Radwegenetz als Produkt, das eine hohe Qualität aufweisen soll, um von einer möglichst breiten Bevölkerungsschicht gern genutzt zu werden. Außenbezirke wie Floridsdorf oder die Donaustadt können mit den zuletzt erfolgten Ausbaumaßnahmen diese Qualität bieten und sind ein ideales Package, mit dem es – mit den geplanten weiteren Ausbauschritten und -projekten – bald gelingen kann, dass auch große Außenbezirke in Richtung 10 % Fahrrad-Anteil kommen können.
Du hast bereits Kopenhagen angesprochen. Wien wird gern mit anderen Städten verglichen. Diese Vergleiche sind oft müßig, weil jede Stadt ja historisch gewachsen ist, unterschiedliche Rahmenbedingungen hat oder das Planungsverständnis an sich ein anderes ist. Trotzdem: Was unterscheidet Wien von Kopenhagen oder von Amsterdam? Was ist vergleichbar, was ist anders?
Paul: Die Alltags-Radkultur ist in beiden Fällen merklich ausgeprägter als in Wien. In den Städten der Niederlande und Dänemarks stellte man sich schon früh Fragen wie: „Brauchen wir so breite Straßen nur für den Autoverkehr?“ oder „Wie können wir anders mobil unterwegs sein?“ In Dänemark und den Niederlanden wurde schon vor Jahrzehnten erkannt, dass der öffentliche Straßenraum anders verteilt werden muss. In den Städten selbst fand früher ein Umdenken statt, anstatt aufs Automobil wieder verstärkt auf das Rad zu setzen. Die in manchen Gegenden spürbaren Steigungen in Wien stellen ebenfalls einen Unterschied zu den radaffineren Ländern im Norden Europas dar. Dort muss man sich jedoch mit stärkerem Wind und schnell wechselndem Wetter arrangieren. Dank der länger etablierten Radkultur gibt es jedoch auch mehr Radwege, bessere Infrastruktur und hochwertige Radgaragen mit Platz für 1.000 Räder und mehr. Wesentlich zu einer gelebten Radkultur trägt auch bei, dass es nur wenige Personen gibt, die nicht selbst auch Rad fahren, d.h. dass auch Autofahrer*innen oder Fußgänger*innen die Perspektive kennen, wie es ist, mit dem Rad unterwegs zu sein. Dort ist jede*r Radfahrer*in und etwas anderes. In Groningen, einer mittelgroßen Stadt in den Nord-Niederlanden, ist das Rad das Hauptverkehrsmittel im Alltag. Rund die Hälfte aller Wege werden mit dem Fahrrad zurückgelegt. Seit den 1970er Jahren gibt es einen „Traffic Circulation Plan“, der vorgibt, dass die Innenstadt nur über bestimmte Routen mit dem Auto erreichbar ist, der MIV-Durchzugsverkehr unterbunden wird und das Angebot an PKW-Stellplätzen im Stadtzentrum deutlich reduziert ist. Somit war es möglich, den Platz im öffentlichen Raum umzuverteilen und ganz anders zu nutzen, für breitere Radwege, Begrünung, Aufenthaltsbereiche oder Platzgestaltungen. Das heißt, es baut nicht alles rein auf einer gewachsenen Radkultur auf, sondern es benötigt auch mutige politische Entscheidungen, die bessere Rahmenbedingungen für den Radverkehr schaffen. Ich denke, das wurde auch in Wien mittlerweile erkannt und erklärt die großen Fortschritte der letzten Jahre.
Thomas: In Gent als Teilnehmer der Velo-City Konferenz 2024 ist mir aufgefallen, dass z.B. das Radfahren in der Fußgänger*innen-Zone selbstverständlich ist. Auch in Gent gibt es einen „Circulation Plan“. Durch die wirksame Verkehrsberuhigung in der Innenstadt ist das Fahrrad ein selbstverständlicher Teil des Straßenverkehrs, die Radfahrer*innen sind gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer im Straßenraum und fühlen sich auch so. Im Vergleich dazu besitzen ca. 40 % der Wiener*innen überhaupt kein Fahrrad und fahren auch nicht mit dem Fahrrad im Alltag. Das spiegelt sich dann auch in den Einstellungen vieler zum Thema Fahrrad wider und ergibt in Summe noch deutliche Defizite in div. Bevölkerungsgruppen in Richtung eines umfassenden Verständnisses für das Radfahren. Wie Paul schon sagte: In den Niederlanden besitzt die Mehrheit der Einwohner*innen selbst zumindest ein Rad und auch daraus ergibt sich eine überwiegend positive Einstellung der Bevölkerung zur Radnutzung. Aber es ist auch nicht alles Gold was glänzt. Auch in den genannten Radländern und -städten gibt es weiterhin ein dichtes Autobahn- und Straßennetz mit tlw. sechs Fahrspuren. Man darf also nicht glauben, dass dort keine Autos fahren.
Paul: In den Niederlanden ist dies auch der Fall, wobei man erwähnen sollte, dass zusätzlich auch ein großer Fokus auf Überlandverbindungen für das Rad gelegt wird. Pendler*innen aus Umlandgemeinden können und wollen dort gut auf breiten Radschnellverbindungen in die nächstgelegene Stadt pendeln können und nicht vom Auto abhängig sein. In Wien soll das Angebot an „Radhighways“ in den nächsten Jahren auch deutlich ausgebaut werden und in diese Richtung gehen. Diese Verbindungen sollen von der Inneren Stadt bis nach Niederösterreich führen. Das wird großartig!
Wenn wir schon bei der Zukunft sind: Wie schaut die Zukunft Wiens aus? Wie ist Wien in 50 Jahren, was ist die Utopie?
Thomas: Die ideale Vorstellung ist, dass man in der fernen Zukunft keine baulich getrennten Radwege mehr planen muss, weil die Straßen ohnehin so angenehm mit dem Fahrrad befahrbar sind und der Autoverkehr auf ein notwendiges Minimum im ganzen Stadtgebiet reduziert wurde, dass man solche Infrastrukturen nicht mehr braucht. Da soll es hingehen, allerdings sind wir davon noch weit entfernt. Aber – in den letzten Jahren hat sich viel getan! Mit der Fahrradstraße Argentinierstraße gibt es jetzt auch ein sehr prominentes Umsetzungsbeispiel, an dem man sich hinsichtlich Gestaltung und Aussehen des Straßenraums der Zukunft orientieren kann.
Die Stadt Wien verfolgt ambitionierte Klimaschutz-Ziele, die auch bedeuten, dass der Autoverkehr weniger werden muss. Wenn das gelingt, wird es in Zukunft zwar immer noch Autos in Wien geben, aber eben wesentlich weniger als heute. Und dann wird Platz frei für viele andere Nutzungen.
Thomas, du bist schon sehr lange bei der Stadt Wien tätig. Gibt es etwas, das du unbedingt noch in deinem Berufsleben erleben möchtest?
Thomas: Ich werde natürlich auch nach meiner aktiven Zeit in der Stadtentwicklung die zukünftigen Mobilitäts-Projekte verfolgen. Beim U-Bahnausbau bin ich auf die neuen Strecken gespannt, die in den kommenden Jahren fertig gestellt werden. Die dazugehörigen generellen Planungen werden ebenfalls in der MA 18 von kompetenten Kolleg*innen erstellt. Es ist immer ein sehr eindrucksvoller Moment, wenn man dann tatsächlich an neuen Stationen aus-, ein- oder umsteigt, die vor einem Jahrzehnt nur auf dem Papier existiert haben. Aber es sind eben lange Zeiträume, mit denen wir in der Planung arbeiten. Ich werde mich jedenfalls freuen, wenn ich z.B. zum ersten Mal mit der U4 aus dem Westen Wiens kommend schon bei der Station Pilgramgasse in die U2 zum Rathaus umsteigen und weiterfahren kann und nicht mehr am Karlsplatz umsteigen muss. Das sind für mich Gänsehautmomente, die gleichzeitig nicht spektakulär erscheinen, weil sie so etwas Alltägliches haben. Wenn wir von der Zukunft Wiens sprechen, denke ich, dass auch die Verkehrsberuhigung der Inneren Stadt ein solcher Moment sein wird. Wir befinden uns mitten in einer Transformation, in einem Umdenken, was die Nutzung von Flächen innerhalb der Stadt angeht. Da wird in den kommenden Jahren sicherlich noch einiges geschehen.
An welche Flächen denkst Du?
Thomas: Die Stadt Wien verfolgt ambitionierte Klimaschutz-Ziele, die auch bedeuten, dass der Autoverkehr weniger werden muss. Wenn das gelingt, wird es in Zukunft zwar immer noch Autos in Wien geben, aber eben wesentlich weniger als heute. Und dann wird Platz frei für viele andere Nutzungen. Den können wir auch für einen stetig steigenden Stellenwert des Fahrrades als Alltagsverkehrsmittel gut gebrauchen. Innerhalb des Gürtels könnte es nur noch Straßen mit einer Fahrspur pro Richtung geben. Das wäre meine Utopie und damit könnten sich viele Wünsche von selbst erfüllen. Viele Menschen zwischen 8 bis 80 Jahren fahren dann mit dem Fahrrad komfortabel und sicher auf der Straße, fühlen sich wohl und genießen jeden Pedaltritt, so könnte es sein.
Wie kommen wir dorthin?
Thomas: Es gilt, die richtigen Maßnahmen zu setzen. Radverkehr hat das Potential zum Hoffnungsträger in der notwendigen Mobilitätswende, denn der Radverkehr kostet nicht viel. Eine neue U-Bahn-Linie, eine Brücke oder eine neue Straßenbahnstrecke erfordern wesentlich höhere Investitionssummen. Auch diese Projekte sind wichtig und notwendig. Parallel dazu kann jedoch der Radverkehr mit relativ überschaubarem Kostenaufwand, z.B. für Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, sehr viel erreichen, mit dem Potential, die Lebensqualität im urbanen Raum wesentlich zu steigern.
Paul: Man darf den Radverkehr aber nicht isoliert denken, sondern im Zusammenspiel mit dem gesamten Umweltverbund, insbesondere in Kombination mit dem öffentlichen Verkehr. Der ist in Wien bereits heute sehr wichtig und wird noch viel wichtiger werden. Es gibt derzeit und wird auch zukünftig noch viele Baustellen geben, aber Wien wird in 10 Jahren ein „Öffi-Paradies“ sein. Highlights wie eine sanierte S-Bahn-Stammstrecke, das fertige Linienkreuz U2 x U5, der Südbahnausbau und der weitere Ausbau von Straßenbahnprojekten befinden sich bereits in der Umsetzung. Die Zukunft ist auf Schiene und auf Rädern.
In der letzten Ausgabe des Newsletters Stadtentwicklung konnten Sie an dieser Stelle lesen, wie das Fahrrad sich Fahrspuren und Wege in Wien seit den 70er-Jahren erkämpft hat.
Zur Person
Thomas Berger: 1982 HTL Matura, 1988 in der MA 18 begonnen, aktuell Leiterin-Stv. im Referat Mobilitätsstrategien, Bezirksreferent. Zuständig für generelle Radverkehrsplanung und strategische Projekte. Ruhestand geplant Ende 2026.
Paul Achatz: Ausbildung Raumplanung und Raumordnung (TU Wien), April 2024 in der MA 18 begonnen, Referent im Referat Mobilitätsstrategien. Zuständig für generelle Radverkehrsplanung und generelle Straßenbahnplanung.

