Die Stadt gestalten – Interview mit Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim
Klimawandel und Bevölkerungszunahme sind große Herausforderungen für eine Stadt. Um die hohe Lebensqualität in Wien zu gewährleisten, muss die „gebaute Umwelt“ bzw. die Infrastruktur entsprechend gestaltet werden. Für die Stadtbaudirektion liegen daher wesentliche inhaltliche Schwerpunkte in den Bereichen Klimaschutz, Klimawandelanpassung und Kreislaufwirtschaft, sowie Ausbau der erneuerbaren Energie.
Fünf Fragen an den Wiener Stadtbaudirektor, Bernhard Jarolim:
Stadtbaudirektor von Wien zu sein – was ist daran so besonders im Vergleich zu anderen europäischen Städten?
Wien ist als lebenswerteste Stadt der Welt einfach außergewöhnlich und besonders. Die „Wiener Melange“ ist schon zutreffend, denn hier ist alles vereint: historische Prachtbauten, Gründerzeitbauten, moderne Architektur und innovative Gebäudekonzepte, sozialer Wohnbau in großem Umfang, dazu eine hervorragende Infrastruktur zur Versorgung der Wiener Bevölkerung, einzigartige Grün- und Naherholungsräume – und das ist nur ein Schlaglicht auf die gebaute Stadt. Als Baudirektor habe ich das Privileg, diese gebaute Stadt mitzugestalten und Einfluss darauf zu nehmen, wie wir unseren Weg in Richtung klimaresiliente, nachhaltige und soziale Stadt weitergehen können. Das ist jedenfalls etwas Besonderes.
Was sind die langfristigen Herausforderungen für die Wiener Stadtplanung? Wo liegen die Schwerpunkte?
Wien ist eine Stadt mit hohem Bevölkerungswachstum, und wird voraussichtlich bis 2030 die 2-Millionen-Einwohner*innen-Marke überschritten haben. Hinzu kommen die Herausforderungen durch den Klimawandel, mit länger dauernden Hitzeperioden und Starkregenereignissen. Wir brauchen also mehr leistbaren Wohnraum und eine soziale und kulturelle Infrastruktur mit Schulen, Kindergärten, medizinischer Versorgung, entsprechende Arbeitsplätze etc. – und gleichzeitig müssen die Gebäude und der öffentliche Raum an den Klimawandel angepasst werden. Die Basis dafür ist eine klimaresiliente Stadtplanung, die die neuesten Erkenntnisse aus der Klimaforschung und auch aus den Fachabteilungen der Stadt Wien mit einbezieht. Eine vorausschauend geplante grüne und blaue Infrastruktur, gut abgestimmt auf die Erfordernisse von Einbauten wie etwa Strom oder Wasser, trägt langfristig zur Lebensqualität in der Stadt bei. Es gibt zur Zeit eine sehr intensive Diskussion um Bodenversiegelung und Bodenverbrauch in Österreich und in diesem Zusammenhang auch immer wieder Kritik an der Errichtung von Wohnbauten in Wien. Dazu muss gesagt werden, dass die Wiener*innen im Durchschnitt pro Person nur rund 100 m2 Siedlungs- und Verkehrsfläche benötigen. Im Umland oder anderen Bundesländern beträgt dieser Wert mitunter das Zehnfache. Die urbane Verdichtung ist eine ökologisch sinnvolle Siedlungsmaßnahme. Dazu gehört ebenso ein gut durchdachtes Mobilitätskonzept, dessen Schwerpunkt auf dem Umweltverbund liegt.
Stadtwachstum, Klimaschutz und leistbares Wohnen – geht sich das aus?
Nun, wir müssen dafür sorgen, dass es sich ausgeht. Wien hat das Ziel, bis 2040 zur CO2-neutralen Klimamusterstadt zu werden. Die Dekarbonisierung der Gebäude ist dafür ein wichtiger Faktor, denn 30% der Treibhausgasemissionen in Wien entfallen auf diesen Sektor. Über eine halbe Million Gasthermen werden auf kreislauffähige, nachhaltige Energietechnologien umzurüsten sein. Dazu brauchen wir den rechtlichen Rahmen, Förder- und Finanzierungssysteme, technische Lösungen, Fachkräfte und nicht zuletzt das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Notwendigkeit einer Abkehr von fossilen Brennstoffen. In diesem Zusammenhang wurde kürzlich das in der Stadtbaudirektion angesiedelte Umsetzungsprogramm „Wiener Wärme & Kälte 2040“ gestartet, um diese wahrscheinlich größte Herausforderung auf dem Weg zur Klimaneutralität zu bewältigen. Ein gutes Beispiel, wie Stadtwachstum und Klimaschutz Hand in Hand gehen, ist der Bildungscampus Liselotte-Hansen-Schmidt in der Seestadt. Er ist nahezu energieautark mittels Geothermie, Wärmepumpe, Betonkernaktivierung und Photovoltaik und verzichtet völlig auf fossile Energie. Das macht diesen Bildungscampus zum Vorbild für alle weiteren. Leistbares Wohnen und Mischnutzungskonzepte bilden die große Klammer über das Thema und sind quasi in die DNA der Stadt eingeschrieben. In den großen Stadtentwicklungsgebieten manifestiert sich das Zusammenspiel von Stadtwachstum, Klimaschutz und leistbarem Wohnen bereits auf höchst positive Weise.
Was sind wichtige Stadterweiterungsgebiete und nach welchen Kriterien werden sie entwickelt?
Das Spannende an den Stadterweiterungsgebieten liegt in ihrer Diversität. Sie sind aber nicht nur in Lage, Größe oder Bebauung unterschiedlich, sondern haben auch ihren eigenen Charakter und sollen sich durch regional typische, identifikationsstiftende Merkmale auszeichnen. Sehr deutlich wird das am Konzept für Rothneusiedl. Eingebettet im Südraum Favoriten soll Rothneusiedl ein Klimaschutz-Pionier-Stadtteil werden, mit mindestens 40 Hektar klimawirksamen Grünräumen, einem 100 Meter breiten Grünkorridor für Frischluftdurchzug, Sickerflächen und Regenwassermanagement und einer nachhaltigen, möglichst autarken Energieversorgung. Dabei sollen der dörfliche Charakter mit seiner Stadt-Landwirtschaft und Heurigenkultur bewahrt und eine lokale Versorgung mit Agrarprodukten gefördert werden. Wenn wir vom Süden Wiens in den Nordosten springen, landen wir in einem der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas: aspern Seestadt. Was hier in den vergangenen Jahren auf dem ehemaligen Flugfeld entstanden ist, ist bemerkenswert. Hochwertiger Wohnbau und Wirtschaftsräume ergänzen einander, modernste Bildungsbauten bringen buchstäblich mehr Spielraum für eine zeitgemäße Pädagogik, hinzu kommen Parks, Freizeiteinrichtungen und ein wachsendes Kulturangebot – nicht zu vergessen der namensgebende See. Das Quartier am Seebogen, an dem gerade gebaut wird, ist sogar ein Vorzeigeprojekt für Neubauentwicklung bei der Internationalen Bauausstellung (IBA Wien) dieses Jahr. Viele Innovationen und ressourcenschonende Ansätze wurden erstmals in der Seestadt in größerem Umfang angewendet und werden auf andere Stadtentwicklungsgebiete übertragen. Beispielsweise wurden das Abbruchmaterial der alten Rollbahnen vor Ort recycelt und der Seeaushub direkt weiterverwendet und somit kreislaufwirtschaftliche Prinzipien umgesetzt. Alles bisher Gelernte und sicherlich noch weitere Innovationen werden in das Stadtentwicklungsgebiet Nordwestbahnhof einfließen. Klimawandelanpassung, eine nachhaltige Mobilität, die Förderung der Kreislaufwirtschaft, viel Grünraum, eine ökologische Energieversorgung und natürlich qualitativ anspruchsvoller Wohnraum sind die Leitmotive für dieses Gebiet. Das Bahnareal hat eine hochinteressante Historie, und jetzt wird der Boden für eine vielversprechende Zukunft bereitet. Was aber unabhängig von ihrer einzigartigen Charakteristik für alle Stadtentwicklungsgebiete – auch die hier nicht Erwähnten – gilt: es geht vor allem um die Schaffung von leistbarem Wohnraum, bei gleichzeitig hoher Lebensqualität für alle Bewohner*innen.
Welche Schwerpunkte verfolgen Sie in den kommenden Jahren? Was ist Ihnen besonders wichtig?
In meiner Herangehensweise gibt es drei wesentliche Leitmotive: koordinieren und steuern, Trends erkennen und in die Zukunft denken, servicieren und ermöglichen. Hinzu kommt die Expertise der Stadtbaudirektion, die ich gerne überall einbringen möchte. Bei einer modernen Planung, Modellierung und Realisierung von Bauvorhaben sind digitale Anwendungen unverzichtbar. Die Digitalisierung ist für mich zugleich ein wichtiger Faktor für die Optimierung von Verwaltungsprozessen und die Weiterentwicklung des Servicegedankens – sowohl nach innen wie nach außen, etwa mit der digitalen Baugenehmigung, wie sie im Forschungsprojekt BRISE (Building Regulations Information for Submission Envolvement) Vienna gerade erprobt wird.
Meine inhaltlichen Schwerpunkte liegen ganz klar auf den sogenannten 3 Ks: Klimaschutz, Klimawandelanpassung und Kreislaufwirtschaft. Wenn wir uns das Prädikat der lebenswertesten Stadt der Welt langfristig erhalten wollen, tun wir gut daran, diese 3 Ks als Basis für unsere Überlegungen zur gebauten Stadt festzulegen und bei Planungen, in der Stadtentwicklung, in der Infrastruktur und bei Gestaltungsprojekten zu berücksichtigen. In der Stadtbaudirektion wurde dieses Jahr eine eigene Stabsstelle für Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit im Bauwesen eingerichtet, von der auch das Programm „DoTank Circular City 2020 – 2030“ geleitet wird. Im DoTank wird daran gearbeitet, die Kreislauffähigkeit in der Bauwirtschaft strategisch und operativ zu entwickeln und Wien in diesem Bereich zu einer zirkulären Stadt zu machen. Unsere planetaren Ressourcen sind begrenzt. Um mit ihnen unendlich lang auszukommen, müssen wir auf lange Lebensdauer, Wiederverwendung und Recycling achten. Das bedeutet konkret, wir müssen künftig wissen, welche Materialien in welcher Menge und Qualität in welchen Gebäuden wie verbaut wurden, um sie nach einem Rückbau weiter zu nutzen. Wichtige Instrumente dabei werden der digitale materielle Gebäudepass und standardisierte Bauwerksdokumente sein. Es läuft hinaus auf eine Transformation der Gebäude – vom Materialverbraucher zum Materiallager. Um das zu realisieren, wird im DoTank-Programm u.a. an Inputs für die nötigen regulativen Änderungen und Grundlagen für innovative, skalierbare Startprojekte gearbeitet. In meiner Vorstellung einer zukunftsorientierten, lebendigen Wiener Baukultur sind die 3 Ks ausgezeichnete Verbündete, um unsere Stadt weiterhin so lebenswert zu gestalten.
Stadtbaudirektor DI Bernhard Jarolim
Bernhard Jarolim leitet seit 1. August 2021 die Magistratsdirektion – Bereich Bauten und Technik, kurz Stadtbaudirektion (MD-BD).
Der Geschäftsbereich Bauten und Technik (Stadtbaudirektion, MD-BD) ist Teil der Magistratsdirektion. Die Stadtbaudirektion beschäftigt sich mit der Steuerung, Lenkung und Koordinierung technischer Angelegenheiten im Interesse der Wiener Bevölkerung unter Berücksichtigung technischer, ökologischer, kultureller und gesellschaftspolitischer Innovationen.
DI Jarolim begann nach seinem Studium der Landschaftsökologie und Landschaftsgestaltung auf der BOKU 1995 bei der Stadt Wien. Von 2010 bis 2017 war er Abteilungsleiter der MA 25, Technische Stadterneuerung. 2017 folgte der Wechsel in die MD-BD (Stadtbaudirektion) als Leiter des Kompetenzzentrums Bauforschung, Regulative Bau, Ingenieurservices, Normen im Geschäftsbereich. Im Juli 2021 wurde er – als Nachfolger von Brigitte Jilka – zum neuen Stadtbaudirektor bestellt, dieses Amt hat er seit 1.8.2021 inne.
Aufgaben des Stadtbaudirektors bzw. des Geschäftsbereichs Bauten und Technik:
Der Stadtbaudirektor ist der oberste Techniker der Stadt Wien und ist als Bereichsdirektor in der Magistratsdirektion für die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Aufgabenerfüllung im gesamten Geschäftsbereich Bauten und Technik des Magistrates der Stadt Wien verantwortlich. Er wirkt im Magistrat der Stadt Wien als steuernde, koordinierende, richtliniensetzende und im Sinne des Controllings prüfende Stelle.
Folgende Kompetenzzentren, Progammleitungen und Servicestellen sind Teil seines Geschäftsbereichs:
- Kompetenzzentrum soziale und kulturelle Infrastruktur, Nachhaltigkeit im Hochbau
- Kompetenzzentrum technische Infrastruktur, bauliche Sicherheit im öffentlichen Raum
- Kompetenzzentrum übergeordnete Stadtplanung, Smart City Strategie, Partizipation, Gender Planning
- Kompetenzzentrum grüne und umweltbezogene Infrastruktur, Umwelt
- Kompetenzzentrum Bahninfrastruktur, Regulative Bau, Ingenieurservices, Normen
- Bereichsleitung Immobilienstrategie, Infrastrukturbedarfe
- Programmleitung Stadtentwicklungsareale für lebenswertes Wohnen
- Stabsstelle Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit im Bauwesen
- Services Auftragswesen und ISBA (Informationssystem Bauen)
- Services Managementsysteme und IKT
- Services Interne Leistungen