Wien als „Caring City“ – eine Stadt, in der sich alle kümmern: „Gender Planning“ weitergedacht
Vor rund einem Jahr haben wir anlässlich ihrer Pensionierung Eva Kail als Pionierin des Gender Plannings vors Mikrofon gebeten. Mit Julia Girardi-Hoog hat sie eine Nachfolgerin, die sehr viel berufliche Erfahrung und Wissen mitbringt – von ihrer Arbeit im Koordinationsteam der Gebietsbetreuungen über das EU Projekt „Smarter Together“ in Simmering bis hin zur Wohnungsvergabe bei Wiener Wohnen ist sie mit den unterschiedlichen Alltagswelten der Menschen vertraut. Durch ihre mittlerweile 12-jährige Tätigkeit bei der Stadt Wien verfügt sie zudem über eine profunde Kenntnis der Strukturen der Stadtverwaltung.
Ein guter Anlass, Bilanz über die ersten 12 Monate im neuen Aufgabengebiet zu ziehen und einen Ausblick auf künftige Projekte und Schwerpunkte zu geben.
Die klassische Einstiegsfrage zuerst: Seit deinem Amtsantritt ist fast ein Jahr vergangen. Was war ausschlaggebend, dich zu bewerben und wie blickst du auf diese erste Zeit zurück?
Julia Girardi-Hoog: Ich komme aus dem Bereich des sozialen Wohnbaus und habe mit Eva Kail bereits seit langem in Fragen der alltagstauglichen Planung und sozialer Aspekte der Smart City Wien zusammengearbeitet.
Bereits in meiner Dissertation habe ich mich mit Gender-Aspekten in der Architektur befasst, zudem habe ich Soziologie und Psychologie studiert. Das ermöglicht einen breiten Blick auf das Thema. Gereizt hat mich zudem die Perspektive, der sich aus der Position der Baudirektion auf das Thema ergibt: Ein gesamthafter Blick auf die Stadt aus alltagstauglicher Perspektive. Und daraus resultierend die Möglichkeit, die Bedürfnisse der unterschiedlichen Lebenswelten in übergeordnete Zielsetzungen und Strategien der Stadt einfließen zu lassen und so auch zur hohen Lebensqualität der Stadt beizutragen.
Was meine ich damit? Ein Beispiel: Die Pandemie aber auch steigende Lebenserhaltungskosten machten und machen deutlich, dass nicht jede*r sich Urlaub oder gar einen Zweitwohnsitz bzw. ein Feriendomizil leisten kann. Das können die wenigsten. Viele haben zudem auch keinen Balkon oder Terrasse, sondern sind auf Tisch- Bank-Kombinationen in den Innenhöfen, Beserlparks oder anderen öffentlichen Grün- und Freiflächen angewiesen, wo sie ihr selbst mitgebrachtes Picknick essen, weil auch das Wirtshaus zu teuer ist. Dorthin müssen wir sowohl in den Strategien als auch in der Umsetzung schauen – und das finde ich eine höchst interessante, herausfordernde aber vor allem auch sinnstiftende Aufgabe. Kurz gesagt: Ich habe es jedenfalls bisher nicht bereut und bin total glücklich, dass ich in einem so spannenden und nach wie vor höchst aktuellen Bereich arbeiten darf und bin beeindruckt, mit wieviel Engagement und Kompetenz alle hier arbeiten.
Wie hat sich die Übergabe mit Eva Kail gestaltet? Konntest du etwas von ihr „mitnehmen“, wo gibt es Gemeinsamkeiten, aber vielleicht auch Unterschiede in der Herangehensweise?
Ich hatte nicht nur eine perfekte Übergabe mit Eva, sondern auch die Möglichkeit einer parallelen Einarbeitungsphase, in der wir uns beide laufend austauschen konnten. Das habe ich sehr geschätzt, gemeinsam so eng am Thema zu arbeiten und von ihrem breiten Wissen und Erfahrungsschatz, aber auch ihren Netzwerken, zu profitieren. Da wir von unterschiedlichen Disziplinen kommen, arbeite ich vermutlich eher zahlenbasiert, ihr Blick war und ist mehr aus der Perspektive der Raumplanung. Was mich aber vor allem beeindruckt hat, war ihre Konsequenz und ihre Ausdauer, an den Dingen dranzubleiben.
Wien gilt hinsichtlich Gender Planning ja als Vorbild in Europa aber auch weltweit – ein Verdienst von Eva Kail. Insofern war in meinen ersten Monaten im „Amt“ vor allem der internationale Austausch sehr intensiv. Und die Erfahrung aus diesen Netzwerken war: Während in manchen Ländern das Thema Gender Planning in einem allgemeinen „Diversitätsbereich“ integriert oder das Gendern ganz abgeschafft wurde, setzt Wien nach wie vor auf Beides.
Dazu ganz provokant eingehakt: Braucht es „Gender Planning“ überhaupt noch? Ist hier nicht ohnehin schon alles gesagt und getan? Müssen wir uns nicht anderen, dringenderen Herausforderungen stellen?
Wir brauchen es mehr denn je, den „Genderblick“ aufzugeben wäre fatal, um nicht wieder blind für die Care Arbeit zu werden. Entgegen der Diskurse und Erwartungen, dass eh „alle alles machen“ sehen wir, dass es de facto seit 2017 wieder Rückschritte bei der geschlechtergerechten Arbeitsteilung der Care Arbeit gibt, Österreich ist bei den Väterkarenzen absolutes Schlusslicht in Europa, ebenso bei Caring Jobs in Kindergärten und in der Altenpflege, wo über 90% Frauen arbeiten. Wir müssen die Erfolge der „alten“ Feministinnen, die vielfach schon in Pension sind, verteidigen und weiterentwickeln.
Ich setze bei meiner Arbeit daher sehr stark auf Zahlen und Fakten. Gerade auch im internationalen Dialog sind diese Zahlen stark gefragt, aber auch Wien als „Role model“. Es geht darum, anhand von hard facts zu belegen, wie wichtig es ist permanent „dranzubleiben“. Spannend ist auch der Generationenwandel im Genderdiskurs. Zum Glück gibt es auch viele junge Feministinnen, auch wenn viele Akademikerinnnen sagen, dass sie selber noch keine Benachteiligung (zum Glück!) erfahren haben. Vielen ist nicht bewusst, dass die berufliche Einschränkung für Frauen mit der Geburt des ersten Kindes beginnt und sich dann oft durch das gesamte Leben zieht. Bei Männern beobachten wir gegenteilige Tendenzen: Nach der Geburt des ersten Kindes steigen meist die Überstunden und die Karriere geht richtig los, weil jetzt muss ja eine Familie versorgt werden.
Ich würde den Begriff des „Gender Plannings“ daher auf „Caring City“ erweitern – also eine Stadt, in der sich alle um alle kümmern und die entsprechenden Voraussetzungen dafür in allen Bereichen vorhanden sind. Und gerade der Klimawandel macht ja auch deutlich, dass wir auf vulnerable und armutsgefährdete Gruppen besonders schauen müssen. Hier sind es gerade wieder die Frauen, die stark in diese Gruppierungen fallen – Stichwort Altersarmut. Letztendlich kommen die Maßnahmen der gesamten Gesellschaft zugute, also Frauen und Männern gleichermaßen, aber auch generationenübergreifend.
Welche Erfahrungen hast du bisher gemacht? Gibt es erste Projekte, die auf Schiene sind? Was sind die ersten großen Herausforderungen?
Innerhalb des Magistrats habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht, ich orte eine große Bereitschaft in den Dienststellen – wir sind im wahrsten Sinne des Wortes eine profund aufgestellte, soziale Stadt. Was manchmal vielleicht noch fehlt, ist entsprechendes Wissen, aber keinesfalls der Unwille. Insofern sehe ich meine Aufgabe auch als „Übersetzungsarbeit“, auch was die großen Herausforderungen des Klimawandels für ein gendergerechtes Planen und Bauen bedeutet. Also, welche Interessenskonflikte sich daraus ergeben können und welche Lösungen es dafür gibt. Etwa, dass durch Beschattungsmaßnahmen, die für die Kühlung im öffentlichen Raum erforderlich sind, aber auch durch Maßnahmen gegen Lichtverschmutzung keine neuen Angsträume entstehen. Oder wie können „hitzetaugliche“ Wegverbindungen und Aufenthaltsräume geschaffen werden und was heißt „Entsiegeln“ für Menschen mit Kinderwägen oder Rollstühlen? Vieles muss neu verhandelt werden, weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Hier hilft auch die Kenntnis aus meinen früheren Tätigkeiten und der Blick auf die Alltagswelten der Menschen enorm.
Ich habe dazu ein „Gender Netzwerktreffen“ ins Leben gerufen, in dem sich dienststellenübergreifend Mitarbeiter*innen aus allen Bereichen der Stadt – vom Straßenbau bis zum Sozial- und Gesundheitswesen –zu aktuellen Fragen austauschen. Auch um an den zahlreichen Schrauben, an denen es zu drehen gilt, gemeinsam drehen zu können und so auch Reibungsverluste zu vermeiden. Es gibt zudem auch einige spannende Forschungsprojekte mit der TU Wien, um den Alltagsbezug im Thema noch weiter zu schärfen. Besonders im Fokus ist dabei die Bestandsstadt. In Neubaugebieten ist der gendersensible Blick meist ohnehin schon „state of the art“. Aber im bestehenden Stadtgebiet ergeben sich aufgrund der baulichen Gegebenheiten oft keine schnellen, einfachen Lösungen.
Musst du, wie früher Eva Kail zu Beginn ihrer Tätigkeit, auch noch „dicke Bretter“ bohren oder sind diese schon dünner geworden?
Die gibt es schon noch, aber viel eher noch in der Privatwirtschaft als im öffentlichen Bereich. Da ist das Thema oft noch nicht so „angekommen“ und ich musste auch schon die eine oder andere Aussage von Investoren – mit sagen wir einmal Erstaunen über die mangelnde Sensibilität – zur Kenntnis nehmen.
Nicht zuletzt eine Frage, die ich Eva auch gestellt habe: Kannst du noch „unbelastet“ durch eine Stadt gehen, ohne zu denken – „oh, da müsste noch etwas getan werden“? Oder begleitet dich das Thema auch in den privaten Alltag?
Natürlich fallen mir im Urlaub oder in der Freizeit auch Dinge auf. Aber auch wenn ich versuche, es auszublenden, werde ich von meinen Kindern daran erinnert. Sie haben mittlerweile auch einen Blick für Defizite entwickelt. Oft höre ich „da gibt es ja gar keine Gehsteige“ oder „die musst du unbedingt beraten“. Da bin ich dann schon ein wenig stolz.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Gabriele Berauschek, Leiterin Referat Öffentlichkeitsarbeit und Fachbibliothek der Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung.